1. Publikation 2004

   Publikation 2006

2. Kinder mit Down-Syndrom,
orofaziale Pathologie (aus dem Hauptartikel:)

Die generelle muskuläre Hypotonie sowie einige seit Geburt bestehende orofaziale Besonderheiten des Kindes mit Down-Syndrom bestimmen die Entwicklungsdynamik, die je nach Dauer der Fehlfunktionen sekundäre pathologische Veränderungen bewirkt. Daher unterscheidet Castillo-Morales (2) zwischen primärer und sekundärer orofazialer Pathologie (Tabelle 2).

Tab. 2: Primäre und sekundäre orofaziale Pathologie bei Kindern mit Down-Syndrom

nach Castillo-Morales (2)

Primär

Sekundär

Hypotonie der Gesichtsmuskeln

Schlaffer Bandapparat des

Kiefergelenks

Störung des Immunsystems

Hypoton vorverlagerte und später auch aktiv vorgestreckte Zunge

Zungendiastase, vordere Zungenmulde, hypoplastisches Zungenbändchen

Mangelnde Zungenvibration

Primäre Zungenbewegungen (3)

Hypoplastisches Mittelgesicht

Stufengaumen (prominente und persistierende Tektalwälle)

Kleine Nasennebenhöhlen

Hypotones Velum, manchmal submuköse Velum - oder auch Gaumenspalte

Lockere und vorgeschobene Unterkieferhaltung

Verzögerte Zahnung, kleine und spitze, aberrierende Zähne

Offene Lippen, herabgezogene Mundwinkel

Unterlippe vorgestülpt, später
vorstehend und eventuell hypertrophierend

Oberlippe inaktiv und hochgezogen,
an den Seiten hypoplastisch.

Offener Mund, habituelle Mundatmung

Austrocknen des Mundes, Rhagaden, chronische Periodontitis, Speichellaufen Häufige Luftwegsinfekte

Zungenvorverlegung spontan und beim Saugen, Trinken, Essen und Sprechen. Zungenlutschen.

Später: Konstante Zungenprotrusion,

seltener echte Makroglossie

- rissige und trockene Zungenoberfläche

- obere und untere Frontzahnprotrusion

- Sprache undeutlich, verwaschen, heiser,

hastig, mit Auslassungen

Zungenprotrusion auch wegen der zu kleinen Mundhöhle

Später manchmal spitzer Gaumen, der nur scheinbar hoch ist

Paukenergüsse in 65-75% (13), Schalleitungs-Schwerhörigkeit in 50-70% (7).

Veluminsuffizienz

Offener Biß mit dentoalveolären Komponenten, Frontzahnprotrusion

Pseudoprogenie, Angle Klasse III

Habituelle Subluxation des Unterkiefers

Verzögerung der Beiß- und Kaufunktion

Förderung oraler Stereotypien

Sprechstörungen bei Kindern mit Down-Syndrom

Die oro- und kraniofazialen Beeinträchtigungen führen zusammen mit der gesamtkörperlichen Hypotonie zu typischen Merkmalen bei der Stimm- und Lautgebung. Der Stimmklang eines Kindes mit Down-Syndrom ist meist rauh, heiser, tief und wenig modulationsfähig. Die Veränderungen der phonatorischen und artikulatorischen Strukturen im und um das Ansatzrohr beeinflussen die Resonanzerscheinung und die Klangfarbe der Stimme. Der Kehlkopf ist unterentwickelt, etwas höher positioniert und auch von der zentralen Hypotonie betroffen. Die Stimmlippenspannung ist schwach, die Stimmbänder sind in der Regel myxödemisch verdickt.

Die Stimme eines Kindes mit Down-Syndrom ist oft wenig tragfähig. Die unausgeglichene laryngeale Muskelaktivität und -feineinstellung, sowie die Atmung lassen den subglottischen Anblasedruck abgeschwächt und diffus entstehen. Durch den verkleinerten Resonanzraum in Mund, Rachen und Nebenhöhlen ist der für die Tragfähigkeit der Stimme so wichtige Resonanzanschluß ungenügend.

Der Stimmumfang ist reduziert. Die Indifferenzlage ist dabei nicht besonders tiefer als bei gesunden Kindern. Da aber diese Kinder kompensatorisch mit erhöhtem Phonationsdruck auf Glottisebene arbeiten, unterliegt der dynamische Akzent der Stimme in Lautstärke, Rhythmus und Geräuschanteilen großen Schwankungen und der melodische Akzent ist stark eingeschränkt.

Auch das Artikulationsprinzip unterliegt der Beschaffenheit und Gestaltung des Ansatzrohres.

Die Gestaltung des Resonators ist hierbei zusätzlich von Zungenlage, Lippen, Gaumensegelfunktion, Kieferöffnung und der Tonhaltedauer abhängig.

Speziell bei der Vokalbildung sind durch mangelnde Resonanzänderung des Stimmklangs und

der nicht adäquat geformten Mundhöhle beim Down Syndrom folgende charakteristische Lautmerk-male erkennbar: Das Hervortreten des Grundtons bei der Vokalformung läßt die Vokale dunkler erscheinen, da Anteile des Grundtons über den lautspezifischen Formantbereich hinaus verstärkt werden können. Die Schwierigkeit bei einer zentralen Hypotonie liegt dabei, einen Formanten in der Hohlraumgestaltung des Ansatzrohres neuromuskulär, taktil-kinästethisch und luftdosierend zu koordinieren. Bei allen Vokalen, mit Ausnahme des /i/, ist oft ein harter Stimmeinsatz zu vernehmen. Der/f/-Laut paßt sich den Gegebenheiten der Kieferenge, der retrahierten Lippen und der abgeflachten Zunge ideal an.

Allerdings werden die Vokale oft kurz und offen artikuliert. Bei /u/; /o/; /ò/; und /y/ fehlt die

nötige Lippenrundung bzw. -spitzung und die Hochrundstellung der Zunge. So neigt das /ò/

mehr zum /e/; das /e/ zum /E/ und das /y/ zum /Ij/. Diphtonge sind artikulatorisch noch

schwieriger zu bilden. Die Gleitbewegung der Zunge von einer tiefen zur höheren Einstellung

und von einem hellen zum dunklen Vokal ist ohne ungenügender Tonhaltedauer,

Kieferstellreaktion, Zungenhohlformung mit Zungenrandspannung kaum durchführbar. Die

Artikulationsstelle bei Menschen mit Down-Syndrom erfolgt hier über die Zuhilfenahme der Unterlippe und der angehobenen Zungenränder. Dabei sind besonders zwei Diphtonge betroffen: der

Phonem /au/, der sich teils zum kurzen offenen /o/ oder zum /a/ und einem unbetontem

Mittelzungenvokal /a/ verschiebt, sowie der Phonem /ai/, der sich hier vorwiegend aus /Ej/

zusammensetzt.

Bei der Konsonantenbildung läßt sich feststellen, dass Kinder mit Down-Syndrom die labiale Artikulationszone gut nutzen. Selbst Labiodentale, wie die Frikativen /f/; /v/; /w/; werden gehäuft über die bilabiale Artikulationszone artikuliert. Allerdings übernimmt hierbei die evertierte Unterlippe den Hauptanteil an Bewegung und muß sich über Mentalisaktivität zur Oberlippe hinbewegen. Um den Unterkiefer in stabiler Position halten können, ist bei der Unterlippenbewegung zur Oberlippe häufig eine Seitenbetonung der Unterlippe erkennbar.

Auch die linguodentalen Laute /d/; /t/; /n/; /z/, /S/; /i/; /,c/; /l/; /r,/; werden interdental und teils interlabial gebildet. Somit verschiebt sich die II. Artikulationszone auf eine parafunktionelle labiale Zone. Nur das initiale /t/; und /d/; entsteht mitunter alveolar mit der vorderen Zungenoberfläche. Die hinteren Plosivae und Frikativae werden korrekt ausgesprochen, wobei dem weichen Plosiv /g/ wenig Stimmhaftigkeit zu eigen ist. Das /h/ erfährt große Geräuschanteile in seiner Artikulation. Besondere Schwierigkeiten bereitet der /S/-Laut, der bei fehlender Lippenrundung und Zungenfehlstellung nicht gebildet werden kann und inkonstanterweise durch interdentales /z/ ersetzt wird. Ebenso wird /,c/ oft durch interdentales /z/ ersetzt.

Im zusammenhängenden Sprechen zeigen sich Probleme bei der lautübergreifenden Synchronisierung der Sprechbewegungen. Schon bei dreisilbigen Wörtern mit Konsonanten-verbindungen wie /kn/; /kl/; /ks/; /st/; ... v. a. mit Wechsel extremer Artikulationszonen und fehlendem vokalischen Kontrast fallen oft Verschmelzungen von Lauten und Endsilben auf. Ein Grund könnte in der Kiefervorverlagerung und der Zungenprotrusion liegen, da die Okklusion bei der /k/-Bildung zwischen Zungenrücken und Gaumen zu lange andauert und die gleichzeitig protrudierte Zunge eine Überspannung erfährt, um mit einer Gleitbewegung die Verschlußsprengung auszulösen. Es kommt zu Verzögerungen auf Laut- und Silbenebene. Dies, und die mangelnde Diadochokinese von Zunge und Lippen, könnte z. T. die Sprechunflüssigkeit beim Kind mit Down-Syndrom erklären.

Letztes update der Seite: January 02 2017 22:55:41.